NO TAV: Doppelmoral, Polizeigewalt und Grenzen der Subversion

von personwhoblogs

Die Bilder dieses Kusses verbreiteten sich wie ein Lauffeuer über die Medien. Eine NO TAV-Demonstrantin, die einen Polizisten auf den Helm küsst: Zunächst medial als wiedergutmachende Geste gefeiert, so, wie anderorts auch mal Blumen an Polizist*innen verteilt werden. Doch bald äußerte sich die Frau, Nina de Chiffre, öffentlich – und kehrte das entstandene Bild in seiner Bedeutung vollkommen um:

„Ich hab versucht ihn zu provozieren (…).  Ich weiß welche die Einsatzregeln sind und habe damit gespielt: Sie dürfen nicht reagieren wenn sie provoziert werden. Ich habe ihn nicht nur geküsst wie das Bild zeigt: Ich habe ihm Dinge gesagt, um zu sehen, ob er reagiert, aber er blieb starr. Ich habe auch seinen Helm abgeleckt, ich habe meine Finger befeuchtet und habe damit seine Lippen berührt. Mein Verhalten war ein Ausdruck der Verachtung für die Polizei. Es war eine spontane Sache. Ich habe diesen jungen Mann in seiner Uniform gesehen und Mitleid und Ekel empfunden.“

Nina de Chiffre wurde angezeigt. Dazu später mehr. Interessant und empörend ist jedoch die Argumentation, mit der ein Vertreter der Polizeigewerkschaft die Anzeige begründete:

„Wenn ich hingehe und sie auf den Mund küsse, ist es dann keine Straftat? Wenn ein Polizist einen willkürlich gewählten Demonstranten küssen würde, bräche doch der dritte Weltkrieg aus“

Dritter Weltkrieg? Wohl kaum. Sexuelle Belästigung auf Demonstrationen ist im Kontext der NO TAV-Proteste leider keine Abstraktion. Die 33-jährige Aktivistin Marta Camposana berichtete vor einigen Monaten, dass sie von der Polizei ins Gesicht geschlagen, beschimpft und im Intimbereich angefasst worden sei. So sah sie danach aus:

Es brach kein Krieg aus, stattdessen wurde Marta angeklagt, Widerstand gegen die Staatsgewalt. Für die Polizisten gab es keine Konsequenzen. Nina de Chiffre hat sich in ihrem Handeln klar auf diesen Fall bezogen:

„Ich wollte dass sich dieser Polizist an das erinnert was Marta geschehen ist: im letzten Juli wurde sie belästigt und geschlagen, ohne dass es Konsequenzen für die Täter gehabt hätte (…)“

Wie im Fall Marta hat dagegen auch diesmal wie schon gesagt das Geschehene für Nina de Chiffre Konsequenzen: Sie wurde nicht nur wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt, sondern auch noch wegen sexueller Nötigung angezeigt. Ein Kuss auf einen Plastikhelm – sexuelle Gewalt. Sicherlich sind Körper Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen – das Konsensprinzip gilt für jede Art von körperlicher Interaktion, vom Kuss bis zum Sex -, und ich will mir nicht anmaßen, jemandem vorzuschreiben, wie er mit bestimmten Erfahrungen umzugehen hat. Ich kenne Menschen, die ungewollt geküsst wurden, und denen das große Schwierigkeiten bereitet hat. Die dadurch traumatisiert wurden. Ich will keine Traumata verharmlosen, auch nicht die von Polizisten, die sicherlich gerade in Demoeinsätzen großem Stress ausgesetzt sind. Aber so, wie über den Fall gesprochen wird, ist der Diskurs an sich eine Verharmlosung sexueller Gewalt. Das strukturelle Problem, dass Frauen geschlagen, erniedrigt, vergewaltigt werden wird gleichgesetzt mit einem Kuss auf einen Plastikhelm, ohne den Kontext einer von Heterosexismus getränkten Gesellschaft zu beachten.

Ich habe selbst Erfahrungen mit Belästigung gemacht, die die mich negativ geprägt haben, aber noch nicht als sexuelle Nötigung zu definieren sind, aber doch als gewaltvolle Aneignung der Körper – die Hand auf dem Hintern im Club ist ein banales Beispiel. Ich kann absolut nachvollziehen, dass der Polizist sich in dieser Situation unwohl fühlte, auch entwürdigt. Die Aktivistin hat nach meinem Verständnis von Protestkultur nicht sinnvoll gehandelt: Ihre Wut an einem einzelnen Individuum auszulassen mag ein Ventil gewesen sein, ist aber der Sache an sich nicht zuträglich. Der Polizist wird wohl kaum danach wirklich über den Marta-Vorfall reflektiert haben, und auch wenn er es getan hätte, was nützt es einen Einzelnen durch Gewalt zu einer potentiellen Erkenntnis zu bringen? (Abgesehen davon dass Gewalt kein Weg der Aufklärung sein darf) De Chiffres Begründung klingt wenig selbstreflektiert, und auch generalisierter Polizeihass führt zu nichts.

Trotzdem ist es unwürdig, wie die Polizeigewerkschaft sich dazu positioniert und geäußert hat. Es zeugt einfach von dreister Doppelmoral und einem kompletten Unverständnis bezüglich der Problematik sexualisierter Gewalt. So wenig Taktlosigkeit von Seiten der Polizei, die eigentlich Betroffenen helfen sollte. Der Fall wird durch die Kategorisierung als sexuelle Gewalt instrumentalisiert, um erneut die NO TAV Bewegung zu diskreditieren und von dem abzulenken, was mit Marta geschah.  Eine Kränkung für die vielen Frauen, die in Italien täglich unter sexueller Gewalt leiden – was sie (im besten Fall) anzeigen ist mehr als ein Kuss. Das Land ist von Mysoginie geprägt, immer mehr Frauen werden von ihren Ex-Ehemännern oder Partnern getötet, aus Rache oder Eifersucht. Über diese Welle von Femiziden und die verzerrte mediale Darstellung werde ich demnächst noch etwas schreiben.

Bei aller Entrüstung über den Diskurs rund um die Anzeige: Ich finde es wichtig, darüber nachzudenken, warum eine solche Form des Aktivismus nicht akzeptabel ist. Nina de Chiffre nimmt durch ihr Handeln an einer Solidaritätsbewegung teil, die bis dahin absolut friedlich über Demonstrationen, Netzaktivismus und zivilen Ungehorsam lief. Der Blogger Massimo Lizzi hat einen klugen Artikel dazu verfasst, in dem er unter anderem ausführt, was ihn an ihrer symbolischen Geste gestört hat – da eine Subversion sexueller Gewalt oder Belästigung nicht möglich ist:

„Ich finde es gefährliche zu praktizieren und auch noch zu theorisieren, dass sexuelle Belästigung eine legitime Strafpraxis sei, eine Provokation, oder eine Form des Widerstands gegen die Behörden . Quasi ziviler Ungehorsam . Das Küssen einer Person, ihr gegen ihre Zustimmung die Finger auf den Mund zu legen bedeutet den  physische und psychische Raum seiner persönlichen Souveränität zu verletzen. Die Souveränität über den Körper zu verletzen. Es kann keine Wideraneignung dieses Körpers geben, als sei er ein öffentliches Gut und für alle verfügbar. Oder eine bloße entmenschlichte Symbolik . Das Mädchen wollte nicht Sex oder Austausch von Zuneigung haben. Es wollte Verachtung auszudrücken. Aber das ist der Kern sexueller Gewalt . Sex wird für Zwecke der Herrschaftsausübung und der extremen Geringschätzung verwendet.

(…)

Sex als Mittel um zu unterdrücken , zu demütigen, zu delegitimieren , ist ein grundlegender Baustein des Sexismus und kann nicht subvertiert, imitiert oder unterlaufen werden. Die Bildsprache des Proletariers, die die aristokratische, bürgerliche Frau bestraft – in Filmen der 60er und 70er Jahre dargestellt – kann nicht umgekehrt und von der NOTAV Frau gegen den Polizisten angewendet werden. Subvertieren bedeutet, die Basis der etablierten Normen zu zerstören, und sie mit ihrem Gegenteil ersetzen. Subvertieren ist das genaue Gegenteil von imitieren und normalisieren. Die Aneignung der Belästigung als Ausdruck der Verachtung kann nicht subversiv sein, im Gegenteil bestätigt und legitimiert sie den Code sexistischer Gewalt. Einen Menschen auf seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe reduzieren ist nie subversiv, sondern bestätigt und legitimiert die Praxis der Entmenschlichung . In einer asymmetrischen Beziehung können die Positionen nicht einfach umgekehrt werden. Wie zwischen einem Stürmer und einem Torwart. Wenn der Torwart denkt, dass er die Rollen austauschen kann, und den Ball selbst ins Tor schießt, wird dabei immer noch ein Punkt gegen ihn erzielt: man nennt es Eigentor.“

Ich kann ihm da nur zustimmen. Sex(uelle Praktiken) sollte nie eingesetzt werden um Herrschaftssysteme zu stützen und Unterdrückung zu perpetuieren, sind aber auch kein Mittel, um diese zu zerstören, wenn nicht absolut konsensuell gehandelt wird. (Dann hat Sexualität natürlich ein hohes emanzipatives Potential, siehe zB Herbert Marcuse). In dem Sinne: LOVE SEX HATE SEXISM!